Freitag, 9. August 2013

Cy Landies 
KUNST KOMPASS (1. Teil)

Bildrezension zu einem meiner absoluten Lieblingsbilder:
Francisco de Goya: Der Schlaf / Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer, 1797/98
 

Die 43. Radierung (Francisco de Goya, Der Schlaf / Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer, aus den Caprichos, 1797/98, Radierung und Aquatinta, 21,6 x 25,2 cm. Privatsammlung, Hamburg) zählt zu den populärsten und meist interpretierten Bilder der europäischen Kulturgeschichte und gilt als programmatisches Zeugnis einer kreativen Befreiung im Sinne der Aufklärung. Goya wirkt bei diesem Werk wie ein Grafiker, der anderen Künstlern seiner Zeit weit voraus ist. Er spielt dabei mit harten Kontrasten und herrscht über die Trennung von Licht und Schatten. Das Bild sollte erst als Titelblatt der Reihe fungieren, doch Goya platzierte das Werk schließlich in die Mitte des Gesamten und eröffnet damit den Teil seiner Arbeit, welche Nacht- und Hexenszenen beinhaltet. Das Motiv ist durchzogen von Mehrdeutigkeit, welche es für den Betrachter so attraktiv werden lässt. Der tiefere Sinn muss von ihm entschlüsselt werden. Es ist gleichzeitig offen und verborgen, einladend und verschlossen. Aus diesem Grund stellte sich heraus, dass auch bei den nachfolgenden Generationen Goyas Radierung eine spannende Interpretationslust auslöste. Es spornte dazu an, sich mit jeweils aktualisierten Deutungsansätzen und neuen künstlerischen Horizonten dem Werk zu nähern. Auf Capricho No. 43 eröffnen sich dem Betrachter zunächst zwei Ebenen, eine helle und eine dunkle – eine vordergründige und eine daruntergelegene. Die Komposition zeichnet sich durch den harten Kontrast von Schwarz-Weiß aus, aber auch grau gehaltene Zwischentöne sind vertreten. Dem Betrachter springt sofort die beleuchtete Person ins Auge, die sich von der Bildmitte bis in die vom Betrachter ausgehende linke untere Bildhälfte erstreckt und sich mit beiden Armen auf einem Schreibtisch abstützt, der von links in das Bildgeschehen hineinragt. Die Person trägt eine längliche Robe und sitzt nicht direkt vor dem Schreibtisch, sondern eher daneben auf einem Stuhl. Der Unterkörper und die sich überkreuzenden Beine sind direkt dem Betrachter zugewandt, während sich der Kopf tief in die Arme vergräbt. Das Gesicht bleibt in dieser Position verdeckt, lediglich der dunkle, strähnige Haarschopf ragt ein Stück heraus. Sein Körper scheint ruhig und bewegungslos zu sein. Auf dem Tisch links neben der Person liegen mehrere Schreibutensilien, darunter Stift, Pinsel und Papier. Auf der Frontseite des Tisches ist gut sichtbar die Schrift El sueño de la razón produce monstruos (zu dt.: Der Schlaf / Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer) eingraviert. Die Person wird von einer Vielzahl von Tieren umringt, welche sich von der Bildmitte nach rechts oben und rechts unten ansammeln. Besonders hervorstechend ist dabei die ebenfalls hell erleuchtete Eule, die auf dem Rücken der Person ihre Flügel ausstreckt. Während links neben dieser Eule noch zwei weitere auf einem dünnen Ast sitzen, lässt sich weiter rechts eine dunkle Katze erkennen. Auf dem Boden rechts neben der Person verweilt ein Luchs, welcher mit übereinander gelegten Pfoten seinen Kopf zu der Person richtet. Hinter der hellen Front mit der Person und dem Schreibtisch erstreckt sich das Bild dann in dunkleren Nuancen. Je tiefer der Betrachter in die obere und untere rechte Bildhälfte eintaucht, desto unruhiger, undeutlicher und dunkler werden auch die Tiere, die sich anhand ihrer Flügelform aber deutlich als Fledermäuse und Eulen zu erkennen geben und in ihrer Vielzahl einerseits aus der Richtung der Person, andererseits aus der hinteren Bildebene zu fliegen scheinen. Goyas Radierung erlangte weltweit Berühmtheit, da auf den Punkt bringt, was den Menschen, seinen Geist und seine Fähigkeiten ausmacht. Zahlreiche Kunsthistoriker sind der Ansicht, dass der Dualismus zwischen Gefühl auf der einen Seite und Vernunft auf der anderen mit diesem Bild aus den späten 1790er Jahren ein Gesicht bekommen habe. Es sei das Bild der Moderne. Wie bereits vorher erwähnt, gibt es, auch aufgrund der hellen und dunklen Ebenen des Bildes, zahlreiche Ansätze für verschiedene Interpretationen. Eine Problematik für den Titel ergibt sich unter anderem aus dem spanischen Wort sueño, dass entweder mit Schlaf oder mit Traum übersetzt werden kann. Dennoch sehen viele diesen Titel, ob mit Traum oder Schlaf übersetzt, als treffenden Sinnspruch für die Dialektik der Aufklärung an.
Es lässt sich generell feststellen, dass Goya als Protagonisten einen Künstler wählt, welcher über seiner Arbeitsfläche, bestehend aus mehreren Schreibinstrumenten, eingeschlafen ist. Sein hell-leuchtend betonter Körper wirkt einerseits ruhig und bewegungslos, andererseits ist seine Position unbequem und möglicherweise auch resignierend. Es scheint so, ob er sich zwischen einem sitzenden und liegendem Zustand befindet und spontan in sich versunken ist. Über seinem niedergesunkenen Haupt flattern Tiere in der Dunkelheit empor, die, im Hinblick auf die Bildrichtung von links nach rechts, auf der einen Seite aus ihm selbst zu entstehen scheinen, auf der anderen Seite für ihn eine Bedrängnis und Bedrohung darstellen. Bedenkt man Goyas Haltung gegenüber der Kunst sowie den Titel des Bildes, so kann man weiter zum Schluss kommen, dass der Künstler die Vernunft repräsentiert, dessen Innerstes in Form von nächtlichen Traumvisionen erzeugt und nach außen gekehrt wird. Dieses Erzeugen wird zwar bereits im Titel angedeutet, doch auch andere Indizien sprechen dafür: Während der Künstler überwiegend durch helle Töne repräsentiert wird, erscheint sein Haupt in derselben dunklen Intensität wie seine eigenen dämonischen Schöpfungen. Sie scheinen direkt aus seinem Kopf zu kommen. Diese Visionen und unterbewussten Träume, welche zu Goyas Zeit noch weitgehend unerforscht sind, werden dabei von Fledermäusen vergegenwärtigt und der Vernunft gegenüber gestellt: Die von geflügelten und vierbeinigem Nagetier bevölkerte Finsternis verweist auf die Abwesenheit der Vernunft. Die Fledermäuse verleihen dem Bild eine unruhige, düstere Komponente. Bei der größten Fledermaus glaubt man gar, der Teufel persönlich stürze sich auf den Schlafenden hinab. Die Dunkelheit fungiert bei Goya als die Gegenwart der Unvernunft, welche sich im Dämonischen, in der Lüge und im Wahnsinn widerspiegeln. Schläft also der Verstand, während ihn die Mächte des Bösen in die Enge treiben? Träumt der Verstand vom Bösen oder der Lüge? Es gibt Meinungen, welche konkreter besagen, dass Goya die Verlassenheit des Menschen thematisiere, dessen Dämonen er mit der eigenen Phantasie erschaffe.
Das Bild beleuchte den Zusammenhang von Vernunft und Einbildungskraft im schöpferischen Prozess. Um ihnen und ihrem Angriff zu widerstehen, müsse der Mensch aus sich selbst schöpfen. Dies würde die ebenfalls hell beleuchtete Eule als Symbol der Weisheit erklären, welche auf der Rückseite des Schlafenden ihre breiten Flügeln zu seinem Schutz ausbreitet. Die Haltung der Flügel erinnert des weiteren in der Kombination mit dem Körpers des Schlafenden an eine Engel-Symbolik. Stellt dies möglicherweise eine ironische Anspielung Goyas auf die Redewendung Schlafen wie ein Engel dar? Auch der in hellen Tönen hervorgehobene Luchs wirkt wie ein Beschützer des Schlafenden, welcher, anhand der überlagerten Pfoten an die überkreuzten Beine des Schlafenden erinnernd, mit Klugheit und Vorsicht im Hintergrund über ihn wacht.
Generell geht es Goya also um das Verhältnis der Vernunft und der Rationalität im wachen Zustand und den dämonischen Träumereien eines Schlafenden. Somit dient die Komposition Goyas als ein Ausdruck für die Moderne, welche sich auch mit der beunruhigende Fragen des Menschen nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen seiner künstlerischen Produktivität und Phantasie befasst. Gleichzeitig lässt sich annehmen, dass Goya damit aber auch über seine eigenen Tätigkeiten und Aufgaben als Künstler reflektiert.

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